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VIELE STIMMEN AUS EINER KEHLE (von Markus Riccabona)
Die alte Kunst des Obertongesanges als Wegweiser im Paradigmenwechsel unserer heutigen Zeit

Inhalt:

· Obertongesang in Europa
· Ursprung und Entstehung des Obertongesanges
· Bewußtseinsveränderung durch Gesang
· Die Heilkraft der Obertöne
· Warum Obertongesang wirken kann
· Die Technik des Obertonsingens
· Polyphonie und Temperierung
· Transformation durch Obertöne

"Der ahnungslose Hörer möchte seinen Ohren zunächst nicht trauen: Da erhebt sich aus dem monotonen Gesang einer Stimme plötzlich eine zweite und entfaltet über dem unverändert anhaltenden Grundton eine melodische Linie, deren reine Klanglichkeit und Harmonik allem Irdischen entrückt zu sein scheint", schreibt der deutsche Obertonsänger Michael Vetter, der nach einem langen Aufenthalt als Zen-Mönch in Japan als einer der ersten den Obertongesang in die westliche Welt brachte - genauer gesagt: zurück brachte:
Erklingt Obertongesang, denkt der Hörer zunächst an exotische Länder, an tibetische Rituale oder an die weiten Steppen der Mongolei, wo das Volk der Tuva eine der längsten ununterbrochenen Traditionen des Obertongesanges vorweisen kann. Die verschiedenen Techniken des Obertongesanges sind jedoch nicht nur auf wenige ostasiatische Kulturkreise beschränkt. Der Obertongesang ist vielmehr eine alte heilige Gesangskunst, die einst in wahrscheinlich allen Kulturen und Religionen verwurzelt war - auch hier bei uns in Europa.
In einer Zeit des Umbruchs und tiefgreifenden Paradigmenwechsels ist es vielleicht mehr die unbewußte Erinnerung westlicher Sänger, die uns eine schon vergessene Welt des Klanges wieder eröffnet, als eine reine Nachahmung ethnischer Musik. Der leider vor kurzem verstorbene "Jazzprofessor" Joachim Ernst Berendt schreibt in seinem Buch "Das Dritte Ohr": "Jahrhundertelang blühte die edle, alte Kunst des Obertonsingens in Tibet und in Nordindien, beim sibirisch-mongolischen Stamm der Tuvas, in buddhistischen Klöstern Japans und Chinas und bei begnadeten Sängern der südamerikanischen Anden. Aber die jungen Menschen, die nun plötzlich in Europa und den USA Obertöne singen, betreiben dies nicht als Imitation von Exotischem. Sie singen artikulierte und wohlkonturierte Melodie-Phrasen, die ihre Herkunft aus westlichem Musikempfinden in jedem Ton verraten."

Obertongesang in Europa

In Europa blühte der Obertongesang wahrscheinlich bis zum aufkommen der Polyphonie und verschwand schließlich mit dem Siegeszug der Mehrstimmigkeit im 16. Jahrhundert. Eines der letzten Zeugnisse für Obertongesang finden wir bei Tinctoris, einem neapolitanischen Hofkantor in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Dieser beschreibt in seinem Werk "De Inventione et Usu Musice", wie "Gerhard der Brabanter, mein Landsmann am Hof des Herzogs von Burgund, unter dem rechten Porticus der berühmten Kirche zu Chartres vor meinen gegenwärtigen Augen und Ohren den Sopranpart zugleich mit dem Tenor - nicht etwa die Töne abwechselnd - auf das Vollkommenste sang."
Der "cantus planus", der einstimmige Gesang der Gregorianik, war höchstwahrscheinlich gar nicht so einstimmig, wie heute angenommen wird. Es gibt einige Indizien dafür, daß ein Großteil der Gregorianischen Literatur mit Obertontechniken gesungen wurde. Zumindest spielte die Verstärkung der Obertöne in den Klangfärbung der Vokale eine wesentliche Rolle. Der amerikanische Sänger und Musikforscher Jonathan Goldman schreibt: "Die Schönheit des gregorianischen Gesangs hat mit seinen hörbaren Obertönen jahrhundertelang die Kathedralen erfüllt. Der gregorianische Gesang war zunächst einstimmig; alle Mönche sangen die selbe Melodie mit verlängerten Vokalen. Dies wurde als ‚cantus planus' bezeichnet. Die verlängerten Vokale erzeugten Obertöne, die wie eine die Mönche begleitende Geisterstimme klangen. Im 8. Und 9. Jahrhundert wurden die Obertöne in mehreren Klöstern sehr viel bewußter angestrebt, als das heute beim Singen gregorianischer Choräle der Fall ist."
Wir haben zwar keine Tonträger aus jener Zeit, die diese Theorie bestätigen könnten, aber - wie gesagt - einige Indizien: Erstens werden bei langen Vokalmodulationen, wie sie in der Gregorianik häufig vorkommen, zwangsläufig Obertonschwingungen verstärkt. Diese Tatsache machen sich auch heute im Westen verwendete Obertontechniken zunutze. Weiters ist der ursprüngliche Standort der Chorgestühle in romanischen und gotischen Kirchen, besonders die Position des Vorsängers, zu berücksichtigen. Die geometrischen Proportionen der Kirchen waren sowohl auf den tellurischen Energiefluß des Standortes, als auch auf die akustische Entfaltung der Gesänge und Gebete ausgerichtet. Wer an diesen besonderen Punkten alter Kathedralen oder Klosterkirchen singt, wird sogar ohne Verwendung komplizierter Techniken sich übereinander auftürmende Obertonkuppeln erzeugen, die den gesamten Kirchenraum erfassen. Der erstaunte Zuhörer kann nicht einmal die Richtung bestimmen, woher diese scheinbar übernatürlichen Klänge kommen. Die Organistin der Schönbrunner Schloßkapelle, Dr. Gertrude Kastner, hat diesbezüglich vor allem in Frankreich sehr interessante Untersuchungen geführt. Schließlich seien noch die faszinierenden Oberton- Interpretationen von gregorianischen Gesängen Iégor Reznikoffs erwähnt. Besonders seine Aufnahme von "Marie Medelaine: La Vase de Parfum" aus der Literatur von Vézelay (Frankreich) eröffnet eine neue Klangdimension für die mögliche Interpretation von Gregorianik.

Ursprung und Entstehung des Obertongesanges

Um sich den Ursprüngen des Obertongesanges zu nähern, muß man sich den Völkern zuwenden, die diese Kunst in einer noch ungebrochenen Tradition pflegen. Nur so können die dünnen Spuren zurückverfolgt werden. Auffallend ist, daß in allen Kulturen, die den Obertongesang noch traditionell verwenden, der Schamanismus oder zumindest schamanische Elemente noch lebendig sind. In den meisten Fällen finden sich auch noch Elemente des Nomadentums in diesen Gesellschaften. Das beste Beispiel dafür sind die Tuva, ein kleines Turkvolk im Gebiet des Altai, an der Grenze der Russischen Föderation zur Mongolei. Der Schamanismus - und damit der Obertongesang - hat dort dank der unüberschaubaren Weitläufigkeit des Gebietes sogar das Verbot und die Verfolgung durch den Kommunismus überlebt. Galsan Tschinag, ein Schamane und Stammesführer der Tuva, der kürzlich in Österreich zu Besuch war, führt sein Volk sogar wieder zur traditionellen nomadischen Lebensweise zurück. Auch in Tibet lebe ein großer Teil des Volkes bis zur chinesischen Invasion nomadisch, und der tibetische Buddhismus ist - je nach Sekte mehr oder weniger stark - von den schamanischen Elementen der ursprünglichen Bön-Religion durchsetzt. So spielen schamanische Rituale, besonders bei der Befragung von Orakeln, immer noch eine wesentliche Rolle.
Schamanismus und Nomadentum weisen auf ein sehr enges Zusammenleben mit der Natur und ihren Elementen hin. Der Nomade ist den Kräften der Natur ausgesetzt und hat über die Methoden des Schamanismus immer versucht, die Bedrohung durch die Naturgewalten möglichst gering zu halten und gleichzeitig ihre unbegrenzten Kräfte in sein eigenes Wesen zu integrieren. Durch die Nachahmung eines Tieres vereinigt sich der Schamane mit dessen Wesen, ja wird selbst zum Geist dieses Tieres und kann so dessen Eigenschaften für sich und sein Volk nutzbar machen.
Bei den Tuva lernt heute noch jeder Obertonsänger zuerst, die verschiedensten Tierlaute nachzuahmen. Auch gibt es nach der Legende einen heiligen Wasserfall, der den Menschen von den Göttern geschenkt wurde, um sie den Obertongesang zu lehren. Durch das Hineinlauschen in die Klänge der Myriaden von Tropfen und ihr Zusammenspiel hinter der Oberfläche der rauschenden und donnernden Wassermasse, dringt der angehende Schamane tiefer in das Wesen der Natur - auch seiner eigenen - ein. Die tiefe Verbindung mit den Melodien und Rhythmen der inneren und äußeren Schöpfung lehrt ihn, in Harmonie mit allen Wesen zu leben. Diese Harmonie drückt sich wiederum in seinem Gesang aus und überträgt sich im Ritual auf den Sterbenden, Kranken, Ratsuchenden oder das ganze Volk in Zeiten der Not.

Bewußtseinsveränderung durch Gesang

Der Gesang - und im Besonderen der Obertongesang - wurde ursprünglich nur für drei Zwecke verwendet: den Lobpreis Gottes (oder welchen Namen der Eine in den verschiedenen Kulturen auch tragen mag), die Heilung und - das Enchantment. In diesem Begriff steckt das englische Wort für spirituelle Gesänge, "chant", das wiederum vom französischen "chanter" (singen) stammt. Die französische Redewendung "je suis enchanté" mit der Bedeutung "ich bin erfreut" oder auch "ich bin bezaubert" heißt wörtlich übersetzt eigentlich: "Ich bin besungen."
Wie eng Singen mit Zauber und Entrückung verbunden ist zeigt sich auch im lateinischen Wort "cantare" von dem sich "chant" und "chanter" herleiten: seine erste und ursprüngliche Bedeutung ist nicht "singen", sondern "beschwören" und "zaubern".
Der französisch-englische Begriff "Enchantment" (Spanisch: encantamiento) bedeutet also soviel wie "Verzauberung" aber auch "Entzücken", ja sogar "Verzückung". So hat dieses Wort über Jahrhunderte hinweg die Wirkung und ursprüngliche Verwendung von Gesang transportiert: Bewußtseinserweiterung, Trance, Ekstase, Vision. Durch den Obertongesang gelangte der Schamane in die Anderswelt der Naturgeister und konnte sein Bewußtsein erweitern für den Kontakt mit dem Numinosen.
Durch die Tatsache, daß die Obertonreihe nach oben offen, also ihrer Natur nach unendlich ist, helfen die Frequenzen der Obertöne, die Schwelle vom Bewußten zum Unbewußten zu überschreiten und verschiedene Bereiche des Selbst miteinander zu verbinden, was zu neuen Ein- wie auch Aussichten führt. In diesem Zusammenhang wird der Obertongesang noch heute verwendet - auch im Westen, etwa bei meditativen Klangreisen. Joachim Ernst Berendt: "Jeder Weg in den Raum der Obertöne ist auch ein Weg in die Unendlichkeit." Oder der italienische Obertonsänger Roberto Lanieri: "Mit den Obertönen als Vehikel gelangst du in andere Dimensionen."

Die Heilkraft der Obertöne

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Obertongesanges ist, wie schon oben angeführt, seine heilende Wirkung. Jonathan Goldman schreibt in seinem Buch "Heilende Klänge - Die Macht der Obertöne": In den alten schamanistischen Traditionen der Mongolei, Afrikas, Arabiens, Mexikos, in der geheimen kabbalistischen Tradition von Judentum und Christentum sowie in den heiligen spirituellen Traditionen Tibets wurden Vokalklänge und Obertöne benutzt, um zu heilen und zu verwandeln. Im Verlauf meiner jahrelangen Erforschung therapeutischer und verwandelnder Klänge habe ich keine Technik entdeckt, die die Macht heiliger Klänge so sehr verkörpert wie die Obertöne."
Die Heilwirkung des Obertongesanges beruht auf zwei Prinzipien: dem Prinzip der Schwingung und dem Prinzip der Entsprechung. Das Prinzip der Schwingung besagt, das alles Schwingung ist. Vom reinen Geist bis zur dichtesten Materie ist alles in Schwingung und definiert seinen aktuellen Zustand durch Frequenz und Amplitude. Das Prinzip der Schwingung beinhaltet weiters, daß Schwingungen einander beeinflussen. Wird also durch Gesang eine bestimmte Schwingung erzeugt, so beeinflußt diese alle anderen Schwingungsmuster, mit denen sie in Berührung kommt. Daß dies für alle Ebenen des Seins gilt, wurde wissenschaftlich durch die Erkenntnisse der Quantenphysik bestätigt.
Das Prinzip der Entsprechung besagt: Wie oben so unten, wie unten so oben. In der Musik kennen wir dieses Prinzip als das Gesetz der Oktave: Alle acht Töne finden wir einen Ton, der in Qualität und Schwingungsmuster dem ersten entspricht. Er ist nicht identisch mit diesem, verfügt aber über analoge Eigenschaften, weshalb er auch den gleichen Namen trägt. Das Gesetz der Oktave gilt nicht nur in der Musik, sondern erscheint bei allen Arten von Schwingungen.
Das Prinzip der Entsprechung beinhaltet aber auch das Phänomen der Resonanz, daß nämlich Schwingungen, deren Frequenz ein ganzzahliges Vielfaches des Ausgangstones aufweisen, mit diesem in Resonanz automatisch mitschwingen. In der Musik wird diese nach oben offene Schwingungsreihe ganzzahliger Vielfacher als Obertonreihe bezeichnet. Je niedriger das Zahlenverhältnis zum Ausgangston ist, desto harmonischer verhalten sich die Schwingungen zueinander und desto größer ist die Resonanz. Die Oktaven weisen jeweils die doppelte Schwingungszahl des Grundtones auf (Verhältnis 2:1) und sind daher das harmonischste Intervall.
Wird auf einem Klavier ein beliebiges "C" angeschlagen, so schwingen durch das Gesetz der Entsprechung alle anderen C-Saiten mit - obwohl sie nicht angeschlagen wurden. Analog können wir uns die Wirkung von Tönen auf den Menschen vorstellen: Die erzeugte Frequenz wirkt nicht nur in dem Bereich ihrer Erzeugung und akustischen Wahrnehmung, sondern in entsprechender Weise auch in tieferen und höheren Oktaven anderer Schwingungsarten. So ist es zu erklären, daß Töne auf den Körper, das Energiesystem, auf Emotionen und bis in geistige Bereiche hinein wirksam sind und Schwingungsveränderungen verursachen. Diese Tatsache macht sich inzwischen auch im Westen die Musiktherapie zunutze.
Der Obertongesang geht noch einen Schritt weiter. Der harmonikale Aufbau der Obertonreihe findet sich nicht nur in der Musik, sondern in allen Bereichen der Natur. Joachim Ernst Berendt schreibt in "Nada Brahma": "Der Kosmos bis hinein in die Tiefen der Pulsare und Schwarzen Löcher, die atomare Welt bis hinab zu den Elektronen und Photonen, die Welt in der wir leben, Pflanzenblätter, Tier- und Menschenkörper und die Mineralien - das alles soll nach Gesetzen der musikalischen Harmonielehre strukturiert sein und in ihr schwingen? Ist es nicht eher anzunehmen, daß es sich umgekehrt verhält: Daß die Harmonik der Musik nach den Strukturgesetzen unserer Welt und des Makro- und Mikrokosmos gebildet wurde?"

Warum Obertongesang wirken kann

Um die Wirkung von Obertongesang zu verstehen, müssen wir zwischen Ton und Klang, zwischen Grundton und Oberton unterscheiden können.
Der deutsche Physiker und Obertonforscher Hans Cousto beschreibt in seinem Buch "Die Oktave": "Zupft man die Saite einer Gitarre oder einer Sitar und bringt diese so zum klingen, so hört man nicht nur den Grundton, sondern noch eine ganze Reihe weiterer Töne mit ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz. Die Summe dieser Töne, Grundton und Obertöne, bilden zusammen dann das Klangbild dieses ‚Tones'. Man nennt die aufsteigende Reihe von Grundton und Obertönen auch Obertonreihe oder ‚Teiltonreihe'. Der Grundton ist der erste Teilton. Der erste Oberton, der Oktavton, ist somit der zweite Teilton. Der zweite Oberton, die Quinte in der ersten Oktave, auch Duodezime genannt, ist der dritte Teilton u.s.w. Die Nummer des Teiltones verrät gleichzeitig auch das Frequenzverhältnis zum Grundton. So hat der zweite Teilton (Oktave) genau die doppelte Frequenz, der dritte Teilton (Duodezime) die dreifache Frequenz des Grundtones u.s.w.
"Die musikalischen Intervalle werden durch die Teiltonverhältnisse bestimmt. Je einfacher das ganzzahlige Verhältnis ist, desto reiner empfinden wir dieses Intervall. Andererseits, je weiter die beiden Zahlenwerte eines Teiltonverhältnisses auseinander liegen, desto unharmonischer oder auch spannender wird das Verhältnis empfunden. In der Obertonreihe und ihrer Struktur liegen viele Geheimnisse verborgen. Sämtliche Grundlagen der Harmonielehre werden aus den Zahlenverhältnissen der Obertöne abgeleitet.
"In der ersten Oktave liegen keine weiteren Obertöne, in der zweiten einer, in der dritten drei, in der vierten sieben. Die fünfte (Teilton 16 bis 32) enthält fünfzehn, die sechste (32 bis 64) einunddreißig, die siebte (64 bis 128) dreiundsechzig. (...) Bevor noch die achte Oktave erreicht ist, werden die Intervalle zweier aufeinanderfolgender Obertöne so klein, daß das menschliche Ohr sie nicht mehr deutlich unterscheiden kann. Die Obertonreihe wird zu einem ansteigenden Kontinuum von Klangschwingungen."
Durch den Obertongesang werden Sänger wie auch Zuhörer mit der Schöpfung innewohnenden harmonikalen Strukturen in Resonanz, in Einklang gebracht. Der Grundton dient hier als Vehikel, als Transportmittel. Die Obertöne sind die eigentlichen Wirkstoffe, die Transportiert werden. Der Grundton ist mit einem Zug vergleichbar, der eine bestimmte Strecke zu einem bestimmten Ziel fährt. Dies sagt jedoch noch nichts über seine Ladung aus, die er mit sich führt. Die Auswahl der Obertöne, die über dem Grundton zum Klingen gebracht werden, bestimmen erst die Qualität der "Ladung". Das Verhältnis von Grundton zu Oberton in ihrer Wirkung läßt sich auch durch einen Vergleich mit einem Medikament veranschaulichen: Das Heilmittel (Oberton) wird von einer bestimmten Trägersubstanz (Grundton) an den Ort gebracht, wo es wirken soll.
Jeder Grundton hat einen bestimmten Bereich im physischen Körper und im Energiesystem des Menschen, wo er besonders stark schwingt, also Resonanz findet. Die Zuordnung zu Körperteilen, Organen und Energiezentren (Chakras) geschieht durch die Systeme verschiedener, Jahrtausende alter Traditionen etwa aus Indien, Tibet oder China, durch die entsprechenden Planetentöne und besonders durch die empirische Ermittlung aus der persönlichen Anwendung. Der Grundton kann nun bestimmte, vom Sänger bewußt ausgewählte Obertöne seines Spektrums transportieren. Obertöne können je nach ihrer Stellung in der Obertonreihe, also ihrem Intervall zum Grundton, verschiedene Wirkungen haben: aktivierend, harmonisierend, beruhigend, wärmend, kühlend, steigend, sinkend, öffnend, schließend etc.
Durch das Zusammenwirken von Grundton (Ort der Wirkung) und Oberton (Art der Wirkung) kann der therapeutisch arbeitende Obertonsänger spezifische Wirkungen vor allem im energetischen Bereich erzielen.

Die Technik des Obertonsingens

Für die Erzeugung von Obertönen gibt es zahlreiche verschiedene Techniken. Streng genommen werden die Obertöne nicht erzeugt, sondern aus dem jeweiligen Grundton, in dem sie als Potential mitschwingen, isoliert und verstärkt. Jede Tradition, jedes Volk hat im Laufe der Geschichte höchst unterschiedliche Techniken entwickelt. Auch im Westen sind seit der Wiederentdeckung des Obertongesanges wieder neue, nicht ethnisch-traditionelle Techniken entstanden.
Michael Vetter verfolgt die Entstehung der Obertöne bis zurück in den Sprachprozeß: "Wir sprechen, ohne es zu wissen in Akkordfolgen." Sprechen wir ein "A", "E", "I" oder "U", so können wir diese Vokale nur durch ihre unterschiedliche Zusammensetzung aus Obertönen erkennen. Ganz automatisch wählen wir beim Sprechen bestimmte Obertongruppen, die dem artikulierten Laut die entsprechende Klangfarbe geben. Dies geschieht durch unterschiedliche Lippen-, Zungen-, Kiefer- und Rachenstellungen sowie verschiedene Resonanzen. Auch bei jedem einzelnen Vokal kennen wir unzählige Variationen des Klangbildes. So können wir beispielsweise durch minimale Änderung der Lippenrundung ein geschlossenes oder ein offenes "O" artikulieren - wie in "Mond" und "Sonne".
Wir kennen sogenannte "tiefe", "mittlere" und "hohe" Vokale. Diese Bezeichnungen sagen bereits einiges über die Oberton-Zusammensetzungen aus. Das tiefe "U" etwa ist sehr reich an tiefen Obertönen, das hohe "I" hingegen setzt sich hauptsächlich aus wenigen Obertönen höherer Oktaven zusammen. So gibt es unendlich viele Kombinationen von Obertönen, die das Klangbild der Sprache bestimmen.
Beim Obertongesang wird nun ganz bewußt ein einzelner Oberton des Grundtones isoliert. Durch spezielle Techniken - von denen einige jahrelang geübt werden müssen - von Lippen- und Zungenstellungen sowie Resonanzbildungen werden einzelne Obertöne von brillanter Klarheit aus einem Klang "herausgefiltert". Durch gezielte Veränderungen der Resonanzbedingungen in Mund und Nase können Melodien quer durch die Teiltonreihe gesungen werden.
Diese Technik des Obertonsingens hat nichts zu tun mit der Kopfstimme, dem sogenannten Falsettgesang oder Countertenor. Beim Obertongesang sind zwei Töne zugleich hörbar: der Grundton, den der Kehlkopf produziert, und einzelne glasklare Obertöne, die isoliert und verstärkt werden. Verschiedene Techniken gestatten eine solche Brillanz und Intensität der Obertöne, daß diese wesentlich lauter als der Grundton klingen und von Hörer als eigene, abgehobene Melodiestimme erkannt werden können.
Der deutsche Obertonsänger und -forscher Peter Michael Hamel schreibt in seinem Buch "Durch Musik zum Selbst": "Er (ein Mongole, Anm.) summt oder singt nasal einen Ton in mittlerer Lage an und verändert den Raum in der Mundhöhle durch Öffnen und Schließen des Mundraums, wodurch er das Obertonspektrum des einzelnen angehaltenen Tones verändert. In großer Höhe erklingt plötzlich sehr hoch eine schrille Melodie, die freilich nur aus verstärkten Obertönen eines einzigen Grundtones besteht."

Polyphonie und Temperierung

Mit dem Konzil zu Trient (1561 - 1563) wurde die Polyphonie offiziell vom Papst als Grundlage der neuen Kirchenmusik anerkannt. Damit waren Sänger, die einen oder mehrere isolierte Obertöne gleichzeitig zum Grundton produzieren konnten, nicht mehr gefragt. Eine ganz neue Faszination ging von den nun bis zu 18-stimmigen Chören aus, eine Faszination, die bis heute unser Musikempfinden und vor allem unsere Gewohnheit zu Hören prägt: die Oberflächlichkeit.
Angesichts der großartigen Werke, die uns das westliche Musiksystem seitdem geschenkt hat, mag das hart, ja beleidigend klingen. Doch die Fülle von Stimmen und Melodien hat unsere Wahrnehmung und unsere Aufmerksamkeit vom Wesen-tlichen der Musik, von ihrem Innenraum weg zur Oberfläche geführt. Auch die Einführung der temperierten Stimmung im 18. Jahrhundert ließ das Obertonbewußtsein der abendländischen Kultur immer mehr verkümmern, wie Joachim Ernst Berendt in "Das Dritte Ohr" schreibt: "Temperierung läuft darauf hinaus, daß die natürliche Stimmung die jeder einzelne Ton durch die mit ihm und in ihm klingende Obertonreihe postuliert, negiert wird. Es ist fast so, als ob ein Musikstück, das in temperierter Stimmung gespielt wird - also praktisch jedes Stück westlicher Musik -, mit jedem einzelnen Ton darauf bestehe: corrigez la nature! Jeder Ton in einem solchen Stück - von der Oktave abgesehen - erklingt nicht mehr in seinen natürlichen Relationen, sondern in jenen, mit denen es der Mensch ‚besser' zu machen glaubte."
Die Renaissance des Obertongesanges gerade in der westlichen Welt ist ein Hinweis auf die notwendige Überwindung des Haftens am Äußeren und auf die Erweiterung unserer Wahrnehmung auf das Tieferliegende, das innere Wesen - nicht nur der Töne. Der Siegeszug der Polyphonie fiel in eine Zeit des Umbruchs, eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels. Das Mittelalter ging zu Ende, und die Neuzeit brach an als Dämmerung der Wissenschaften, der Rationalität, der Individualisierung. Bei allem Guten und Wichtigem, das uns diese Entwicklung gebracht hat, ist doch etwas verloren gegangen. Etwas, das wir heute wieder suchen, in einer Zeit neuerlichen Umbruchs: die Mystik, die Innenschau, die Stille. Elemente, die für den Obertongesang wesentlich sind.
Um Obertöne als Hörer wahrzunehmen, und noch viel mehr um sie als Sänger dem Grundton zu entlocken, bedarf es einer inneren Bereitschaft, eines Sich-Öffnens, eines Hineinlauschens in sich selbst. Beim Obertongesang ist der Sänger in erster Linie ein Hörender, ein Spürender. Wie der berühmte französische Stimm- und Hörforscher Alfred Tomatis sagte: "Du kannst nur das singen, was du auch hören kannst." Und Tomatis machte mit seinen von ihm entwickelten Geräten auch wieder hörbar, was wir durch unsere Oberflächlichkeit verlernt haben zu hören: Die unglaubliche Schönheit der Obertonmelodien in den Stücken begnadeter Meister. Tomatis hat eine Methode entwickelt, die vordergründige Melodie eines Stückes herauszufiltern, so daß für den Hörer "nur" noch der Klang, also die Obertöne übrigbleiben.

Transformation durch Obertöne

Jeder, der beginnt, Techniken des Obertongesanges zu erlernen, macht die selbe Erfahrung: Die Wahrnehmung beginnt sich zu verändern. Besonders das Hören erweitert sich nach und nach zu einer deutlichen Wahrnehmung des "Klanges" als klar definierte Obertonreihen. Mit einem Mal wird die Fülle der Obertöne hörbar, die über einem Chor, einem Orchester schwebt, und diese Empfindung wird viel stärker und intensiver wahrgenommen als die Oberfläche der Melodie, deren Töne ja letztlich nur die Grundtöne, die Basis für das explodierende Spektrum der Obertöne sind.
Der stetige, über längere Zeit gleichbleibende Grundton beim Obertongesang führt in die tiefe, hinter die Oberfläche der Melodie, die nach außen statt nach innen weist. Die Obertöne entfalten ihre ganze Schönheit und Macht in der Stille des eigenen Innenraumes, beim Sänger wie auch beim Zuhörer. Lenkt die Veränderung des Grundtones, die Melodie, die Aufmerksamkeit nach außen, an die Oberfläche, so führen der Klang, die Obertöne, zur inneren Wahrnehmung, zur Meditation.
Roberto Lanieri schreibt: "Der erste Schritt ist, einen Ton lange Zeit festzuhalten und zu beobachten. Man nimmt einen Ton und beobachtet ihn wie durch ein Mikroskop. Ein Tropfen Wasser mag auf den ersten Blick nicht viel von sich hergeben, aber genauer betrachtet trägt er das Universum in sich. Es ist vor allem eine Frage der Wahrnehmung, nicht der Aktion, sondern der Kontemplation. Der Ton wird gleichsam von innen beleuchtet."
So kann der Obertongesang in der heutigen Zeit der Paradigmenwechsel, der tiefgreifenden Veränderung in allen Lebensbereichen mithelfen, einen Weg zu weisen: den Weg vom Scheinbaren zum Wesentlichen, von der Unrast des Getrieben-Seins zur Stille der Kontemplation, von der äußeren Oberflächlichkeit zur inneren Tiefe des Selbst. Eine der wesentlichsten Erkenntnisse, die der Obertongesang schenkt ist: Alle Töne sind in jedem einzelnen Ton enthalten - in der unendlichen Obertonreihe, die jeder Ton als Potential in sich birgt. Alles ist eins. Markus Riccabona erstmals erschienen im "Kunstpunkt", Zeitschrift der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien, im Juni 2000


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